Die Figur-Grundbeziehung

Auge und Gehirn arbeiten nicht wie eine Kamera rein registrierend. Es werden Bilder weder für eine kurze Zeit noch auf Dauer als ein beständiges Bild aufgezeichnet. „Der Sehvorgang ist ein vielmehr konstruktiver Prozess, bei dem vollständige Muster wahrgenommen und mit bereits im Gehirn gespeicherten Mustern und Erfahrungen verglichen werden, um zu einer Erkenntnis und Bestimmung des Gesehenen zu gelangen.“ (Weber 1990, S.15) Der österreichische Physiker, Psychologe und Philosoph Ernst Mach hat mit seinem Buch „Die Analyse der Empfindung“ 1886 den Anstoß zur Begründung der Schule der Gestaltungspsychologie gegeben. Er erkannte, dass bei der Wahrnehmung von nicht zu komplizierten Gegenständen die Form als Ganzes über die weiteren Unterscheidungsmerkmale dominiert. 

Bei einem Baum werden nicht die einzelnen Blätter, Äste und der Stamm gesehen, sondern er wird als Ganzes wahrgenommen. Ebenso verhält es sich mit dem Dromedar.
(Weber 1990, S.15)

Um 1910 wurde in der Folge von den Psychologen Max Wertheimer, Wolfgang Köhler und Kurt Koffka, den bedeutendsten Vertretern der Gestaltpsychologie, die Unterscheidung zwischen Figur und Grund als ein wesentliches Kriterium der Gestalttheorie formuliert.

Gestalt
Wenn sich ein Objekt durch Kontrast von seiner Umgebung abhebt, kann es wahrgenommen werden. Diese Unterscheidungsgrenze formt die äußere Gestalt des Objekts. Seine „Gestalt“ entsteht durch spontanes Ordnen und Gruppieren einzelner visueller Elemente zu einem Ganzen. „Die Gestalt bildet eine klar erkennbare Ganzheit, die gegliedert und geschlossen ist und sich von ihrer Umgebung deutlich hervorhebt. […] Das Ganze unterscheidet sich von der Summe seiner einzelnen visuellen Elemente.“ (Weber 1990, S.16)

Um den Übergang vom Kleinen zum großen Ganzen zu veranschaulichen wird hier die Venus von Milo als Beispiel gezeigt. Aus einzelnen Buchstaben wurde der Torso der Venus zusammengesetzt. Man kann entweder jeden einzelnen Buchstaben, jedes einzelne visuelle Element, oder die Gruppierung der Buchstaben zu einem Ganzen, die Gestalt, erkennen. (Rechenzentrum der Technischen Universität Berlin)

Die Figur-Grundbeziehung
Die wichtigste Einsicht in der Gestaltungstheorie liegt in der Unterscheidung zwischen Figur und Grund.

Wenn wir ein Bild betrachten wählen wir in der ersten 1/100 Sekunde unwillkürlich ein Objekt vor der übrigen Szene, dem Hintergrund, als Figur aus. Wir unterscheiden also in der ersten Wahrnehmungsphase zwischen der (uns wichtig erscheinenden) Figur und dem (uns unwichtig erscheinenden) Hintergrund.

Im Gegensatz zur freistehenden Kugel auf dem rechten Bild unterscheidet sie sich links kaum als Figur vom Grund. (Nach A. A. Moles aus „Kunst und Computer“)

5 Faktoren bestimmen die Unterscheidung zwischen Figur und Grund:
1. Die Figur muss sich vom Grund abheben.
2. Die kleinere Fläche wird meist als Figur, die größere eher als Grund gesehen.
3. Figur und Grund können nicht zugleich wahrgenommen werden.
4. Vor allem dicht beieinanderliegende, sich ähnelnde visuelle Elemente werden zu einer Figur zusammengefasst.
5. Symmetrie und geschlossene Formen werden bevorzugt als Figur wahrgenommen.

Quelle:
Weber 1990 Ernst A.Weber: Sehen, Gestalten und Fotografieren. Basel; Boston; Berlin: Birkhäuser 1990
Bilder:
Weber 1990, Seite 15, 16