„Erfundene“ Tradition? (6)

Hobsbowm und Ranger schreiben in „The Invention of Tradition“ darüber, wie Traditionen passend zur aktuellen gesellschaftlichen Situation erfunden werden.  “That ‘new’ traditions simply resulted from the inability to use or adapt old ones.”[1] Dies passiert, “When a rapid transformation of society weakens or destroys the social pattern for which ‘old’ traditions had been designed” or “when such old traditions and their institutional carriers and promulgators no longer prove sufficiently adaptable and flexible, or are otherwise eliminated: in short, when there are sufficiently large and rapid changes on the demand or the supply side.”[2]

Auf was basiert die Tradition der Sinti und Roma? Wurden ihnen erfundene Traditionen zugeschrieben?

Dr. phil. Ursula Hemetek untersuchte in ihren Forschungen, „die Frage, inwieweit sie selbst und andere ForscherInnen Tradition und Ethnizität der Roma `miterfunden` haben.“[3] Hemetek fokussierte sich dabei vor allem in den Bereich der Musikethnologie. Sie schreibt:

„Wir ForscherInnen haben einen Anteil daran, wie sich Communities musikalisch identifizieren, wir beeinflussen das `Feld` durch unsere Fragen, Aufnahmen und Publikationen und die Frage, ob wir nicht damals gewissermaßen Tradition und Ethnizität der Roma `miterfunden` haben, ist offen. Was ich inzwischen gelernt habe, ist, den individuellen musikalischen Ausdruck als solchen wahrzunehmen und mir nicht kollektive Interpretationen anzumaßen. […] Aber mein Verstehen verbleibt in einem begrenzten Rahmen und ich maße mir nicht mehr an, `die Roma` verstehen zu wollen.“[4]

Das Unwissen der Sinti und Roma wurde ab Mitte des 17. Jahrhunderts mit vielen Vorurteilen ausgeglichen und als Bedrohung deklariert. Klaus-Michael Bogdal analysiert die Geschichte der Sinti und Roma und erkennt dabei immer wieder eine Zerrissenheit von Verachtung und Faszination.

Mitte des 19. Jahrhundert lancierte die „Zigeunerromantik“, die unabhängigen, natürlichen und freiheitlichen[5] Zuschreibungen der Sinti und Roma, die im Gegensatz zu der „bürgerlichen Industriegesellschaft“ stand[6]. Die Beschreibungen waren stets ohne „jegliche Referenz zur Lebenswirklichkeit der Romvölker“.[7] In der Literatur um 1800 werden Sinti und Roma als in der Vergangenheit zurückgeblieben[8] dargestellt oder mit „Krisen, Probleme und Tabus“ in Verbindung gebracht. Die Angst vor dem Wahrsagen und Verschwörungen wurde mit den Roma in Verbindung gebracht. [9]

Ende des 19 Jahrhunderts wurden in geisteswissenschaftlicher Forschung „Verbrechens- und Rassentheorien“ aufgestellt, bei denen die europäischen Roma als „`Asoziale` und `Arbeitsscheue`“ deklariert wurden.[10]

„Das Bild des ›Zigeuners‹ ist schillernd, unscharf und ausdeutbar.“[11] Durch diese Unschärfe entsteht ein „gesellschaftliche Konstrukt, dem ein Grundbestand an Wissen, Bildern, Motiven, Handlungsmustern und Legenden zugrunde liegt, durch die ihnen im Reden über sie kollektive Merkmale erst zugeschrieben werden.“[12]

Aber wenn Tradition an die aktuelle Lage angepasst wird, haben wir ja auch in der Hand was mit der Tradition passiert? Dies bedeutet, wir können dabei helfen die Tradition der Sinti und Roma zu einer Tradition gestalten, die von Vorurteilen befreit ist.


[1] Hobsbawm, Ranger: The Invention of Tradition: S.5.

[2] Hobsbawm, Ranger: The Invention of Tradition: S.4.

[3] Beate Eder-Jordan in Roma und Travellers. Identitäten im Wandel; S.62.

[4] Ursula Hemetek in Roma und Travellers. Identitäten im Wandel; S. 189

[5] Vgl. Klaus-Michael Bogdal: Europa erfindet die Zigeuner. Eine Geschichte von Faszination und Verachtung; S.14.

[6] Ebd.; S.14.

[7] Ebd.; S.263.

[8] Ebd.; S.231.

[9] Ebd.; S.232.

[10] Vgl. Klaus-Michael Bogdal: Eine Geschichte von Faszination und Verachtung; S.15.

[11] Ebd.; S.14.

[12] Klaus-Michael Bogdal: Eine Geschichte von Faszination und Verachtung; S.16.